
Stürmisch aufbrandender Jubel eines Publikums, das nach 100 Minuten fesselnder Spannung von den Sitzen hochschnellt. Selbst bei den Ruhrfestspielen erlebt man solch unumwundene Begeisterung nicht alle Tage. Selbst bei einem Publikum nicht, das unendlich dankbar ist für das pralle Live-Erlebnis nach lähmendem Corona-Lockdown. Ein ums andere Mal wird Matthias Brandt im Theater Marl mit frenetischem Applaus auf die Bühne zurückgerufen.
Beim dritten „Vorhang“ lässt sich auch Regisseur Oliver Reese blicken
Beim dritten „Vorhang“ lässt sich auch Regisseur Oliver Reese blicken, der seit fünf Jahren als Intendant das von Bert Brecht am Schiffbauerdamm begründete legendäre Berliner Ensemble leitet. Und dann wird nur noch einer gefeiert: ein brillanter Bühnenvirtuose, ein eher introvertierter Ausnahme-Schauspieler in einem oszillierenden Rollenspiel. Ein Akteur, der die gebotene Rollendistanz von einem Moment auf den anderen exaltiert, ja explosiv durchbrechen kann. Einer, der mit subtiler Mimik und Gestik die Irritationen vorwegnimmt, mit denen Max Frisch in seinem 1964 erschienenen dritten großen Roman „Mein Name sei Gantenbein“ überrascht.

Nach 20 Jahren kehrt Brandt auf die Bühne zurück
Kein Zweifel, den 60-jährigen Schauspieler Matthias Brandt, Willy Brandts jüngsten Sohn, mit einem solch komplexen Stoff nach zwei Jahrzehnten von Film und Fernsehen (als Kommissar im Münchner „Polizeiruf“) auf die Bühne zurück zu locken, ist ein trefflicher Coup. Und dazu einen komplexen 313-Seiten-Roman zu einem 30-seitigen Bühnenskripts zu destillieren, ist es nicht minder für den langjährigen ehemaligen Dramaturgen Reese. Dass manche Pointe darüber etwas grob geraten ist – geschenkt. Da verraten die meist banalen musikalischen Zäsuren schon eher schlechten Geschmack.
Die Bühne ersetzt nicht die Roman-Lektüre
Dass die Regie mannigfache Brechungen und Brüche der Roman-Vorlage übertüncht, kann kaum überraschen. Die Bühne ersetzt halt nicht die Roman-Lektüre. Aber die Essenz des Romans, die Frage nach der eigenen Rolle im Leben, der selbst gewählten Rolle und der gesellschaftlich aufgezwungenen – sie ist bewahrt in diesem anregenden Solo eines hinreißenden Bühnenvirtuosen.
Entfernt erinnert das an „Ulysses“
Entfernt erinnert Matthias Brandts Auftritt an den ersten großen inneren Monolog der Weltliteratur, an den nächtlichen Gedankenstrom der Molly Bloom in „Ulysses“ von James Joyce. Aber Max Frisch geht noch weiter. Er relativiert die Perspektive des allwissenden Erzählers, indem er ihn selbst in wechselnde Rollen schlüpfen lässt. Rollen, von denen man nicht weiß, ob sie real oder fiktiv sind. „Mein Name sei Gantenbein“ ist ein einziges, vexierversessenes Rollenspiel. Der Roman lädt geradezu ein, seine verschachtelten Reflexionsebenen auf die Bühne zu bringen.

Lichtstimmungen und Lichtbogen-Fortsetzung ins schier Unendliche
Wir erleben einen Matthias Brandt, der Geschichten anprobiert wie Kleider. Der sich unentwegt häutet und sich der Kostüme und der wenigen Requisiten bis zum Krückstock und der Brille eines Blinden im Graben vor einem monumentalen, großflächigen Bühnenportal entledigt. Einer Bühne auf der Bühne mit delikaten Lichtstimmungen und Lichtbogen-Fortsetzung ins schier Unendliche (Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler).
Er mimt einen Blinden, um zu sehen, was man ihm vor ihm verbergen will
Max Frisch nimmt in seinem Roman die Botschaft der Existenzialisten beim Wort, dass ein jeder volle Verantwortung für den eigenen Lebensentwurf trägt. Und er nimmt die Dekonstruktion französischer Denker vorweg. So erleben wir Matthias Brandt mit gebotener Rollendistanz als Enderlin, der weiterlebt, obwohl ihn schon zu Beginn nach einer Cocktailparty der Tod am Steuer ereilt. Und als Gantenbein, der einen Blinden mimt, um zu sehen, was man ihm vor ihm verbergen will. Obendrein kokettiert er mit der Rolle des umtriebigen Geschäftsmannes Swoboda.

Auf der Bühne ist er eine ganz große Nummer
Frauen sind Projektionsflächen auf der Suche nach der eigenen Identität. Die Schauspielerin Lila mit ihren Affären (deren Probe als Lady Macbeth uns Regisseur Reese leider vorenthält). Als Geliebte, die ihn als „entsetzlich verfärbte Blondine“ mit ihrem Karmann Ghia auf der Straße aufliest. Und in deren Briefen Gantenbein von der Bekanntgabe seines Todes liest. Pate für sie stand bekanntlich Frischs Geliebte Ingeborg Bachmann (die diese Liaison in „Malina“ aufgearbeitet hat). Oder eine flüchtige Gestalt wie die Kosmetikerin Camilla Huber, die sich als Prostituierte entpuppt. Lauter vermaledeite Beziehungskisten. „Leben gefällt mir“ lauten wie im Roman die letzten Worte. Da hat sich ein Hasardeur mit der Banalität des Lebensalltags arrangiert. Aber auf der Bühne ist er eine ganz große Nummer.