
Nichts stört die Stille auf der Bühne. Die Kammerspiele im Ruhrfestspielhaus sind in diffuse Finsternis getaucht. Bühnennebel wabert über die Empore. Vage lassen sich Reißbrett-Muster einer Versuchsanordnung erkennen.
Zwei altmodische Filmkameras wirken auf der karg möblierten Bühne wie Relikte aus einer anderen Zeit. Es ist die Epoche des amerikanischen Film noir der Vierziger mit seinen schicksalsschweren düsteren Krimis, die der bildmächtige italienische Avantgarde-Regisseur Romeo Castellucci in „Bros“ beschwört. Der Deutschlandpremiere seiner jüngsten alptraumhaften Kopfgeburt bei den Ruhrfestspielen. Es ist dieselbe unheilvolle Stimmung, die er 2014 zu Morton Feldmans musiktheatralischem Ausnahmewerk „Neither“ mit Texten von Samuel Beckett entfachte, seinem letzten Auftritt bei der Ruhrtriennale.
Das ist eine echte Attacke auf die Ohren
Die nebulöse Stille währt nicht lange. Sieben Minuten lang setzen sich die Filmkameras in Bewegung, um hart an der Schmerzgrenze eine ohrenbetäubende imaginäre Schuss-Salve nach der anderen abzufeuern. So unvermittelt wie mit dieser Attacke auf die Ohren löst sich im kargen weißen Gewand eine greisenhafte Gestalt aus dem Dunklen. Es ist der Schauspieler Valer Dellakeza als Prophet Jeremias. Wie ihn Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle gemalt hat. Auf Hebräisch verkündet er, vor Unheil warnend, den zürnenden Zorn des Herrn gegen alles Verdorbene in seiner Welt (das Publikum kann das in Luthers authentischer Übersetzung nachlesen).
Die ersten Cops tauchen auf – mit Knüppeln und Revolvern
Wenn die ersten amerikanischen Cops auftauchen, mit Knüppeln und Revolvern bewaffnet, ahnt man, was uns an diesem 80 Minuten langen Abend erwartet: eine Schwarze Messe aus Gewaltexzessen und Qualen. Eine Passion mit doppeldeutigem religiösem Verweis. Ein auch religiös aufgeladenes Ritual des Leidens und der exzessiven Leidenschaft.
Es ist ein Theater der Grausamkeit mit rasanten szenischen Schnitten wie im Film. Das entfesselt Dionysische im Sinne des dunklen deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche und die Absage des französischen Theatertheoretikers Antonin Artaud ans linear literarische Spiel sind seine Bezugspunkte. Noch ein dritter Aspekt spielt eine entscheidende Rolle: die katholische Prägung der italienischen Kultur. Wie eine verschworene Bruderschaft wirken die vor Ort als Laien rekrutierten 27 Polizisten in amerikanischer Uniform (der Titel „Bros“ verweist auf die Kumpanei der Eingeschworenen).
Ihre Befehle empfangen sie über Kopfhörer
Ihre Befehle empfangen sie über Kopfhörer. Sie haben sich verpflichtet, diese Befehle bedingungslos auszuführen, ohne Zweifel, ohne Skrupel. Keine Chance für das eigene Gewissen. So funktioniert autoritäre Gewalt. So funktionierte der deutsche Faschismus mit seinen willfährigen Befehlsempfängern – zwei patrouillierende Uniformierte mit Schäferhunden deuten das an -, und so funktioniert es heute in der Ukraine durch die blutrünstige Soldateska des faschistoiden Despoten Putin.
In einer exzessiven Knüppelorgie windet und krümmt sich ein nacktes Opfer aus ihren Reihen zum Wimmern eines Säuglings, als ob ihm die Knochen zertrümmert würden. Dieser Abend ist auch eine schwer zu ertragende Attacke aufs Auge. Seht her, was in dieser Welt passiert, scheint uns Castellucci zuzuraunen. Wenn Uniformierte mit einem der Ihren die CIA-Folter des Waterboarding praktizieren. „Die Polizei macht mir Angst“, verrät der Regisseur. „Ich finde sie furchteinflößend.“
Fragen nach dem Herrschaftsanspruch einer autoritären Kirche
In „Bros“ manifestiert sich nicht nur Genese und Auswuchs der Gewalt. Diese Performance stellt auch Fragen nach dem Herrschaftsanspruch einer autoritären Kirche. Und nach der Bedeutung des archaischen religiösen Opferrituals. In weiße Tücher gehüllte Körper verweisen darauf. Es gibt auch skurrile Momente: das knarzende Knistern der ein ums andere Mal gespannten Revolverhähne oder die in Wasserlachen wie nach Elektroschlägen zappelnden Cops.
Man muss nicht das Große Latinum besitzen, um die lateinischen Sentenzen zu erfassen, die Uniformierte auf schwarzen Tüchern zusammen mit Bildern des Hohepriesters des Absurden, des Iren Samuel Beckett, und eines Schimpansen präsentieren.
Eine Stimme aus dem Off übersetzt sie ins Deutsche
Eine Stimme aus dem Off übersetzt sie ins Deutsche. Die verstörende Szenenfolge zum krachenden Geräusch-Panoptikum des Amerikaners Scott Gibbons kulminiert in einem orgelnden Maschinen-Wasserballett. Das Publikum quittierte es mit zaghaft einsetzendem ausgiebigem Applaus.
„Bros“ wird im Kleinen Haus des Ruhrfestspielhauses heute, am 6. Mai, um 20.30 Uhr wiederholt. Karten-Hotline Tel. 0 23 61 / 92 18 0.