
Seit einem Jahr herrscht Ausnahmezustand – in der Sauerland-Stadt Lüdenscheid, in angrenzenden Kommunen und in Südwestfalen als drittstärkster Wirtschaftsregion Deutschlands. Grund ist die marode Talbrücke Rahmede an der Autobahn 45, die es seit ihrer Vollsperrung am 2. Dezember 2021 zu trauriger Bekanntheit gebracht hat. Die bundesweit wichtige Nord-Süd-Achse ist seitdem unterbrochen – mit gravierenden Folgen für Anwohner, Pendler, Beschäftigte und Unternehmen in einem großen Radius.
Insbesondere Anwohner leiden unter der Situation. Sie sind gesundheitlich arg belastet durch Lärm und Abgase tausender Fahrzeuge, auch schwerer Lkw. Die donnern täglich zusätzlich über die Umleitungsstrecken durch Lüdenscheid, direkt an Wohnhäusern vorbei. Viele können nachts kaum noch schlafen, schildert Heiko Schürfeld von der „Bürgerinitiative A45-Lüdenscheid.“
Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat jetzt eine Entlastung für die Anwohner in Lüdenscheid in Aussicht gestellt. „Bund und Land haben es gemeinsam möglich gemacht, dass ein Durchfahrtsverbot für Lkw möglich ist“. Laut dem Ministerpräsidenten können die örtlichen Behörden nun die entsprechende Anordnung treffen. Dann könne Straßen.NRW die Schilder aufstellen, die bereits besorgt seien. „Als Land können wir helfen, mit den Folgen der Sperrung umzugehen“, sagt der Ministerpräsident.
In Lüdenscheid gilt abseits der Umleitungsstrecke bereits ein weiträumiges Durchfahrtsverbot für Lastwagen. Seit Anfang 2022 hat nur der Schwerlastverkehr freie Fahrt, wenn die Lieferziele in der Stadt liegen.
Auch die Feinstaubbelastung mache zu Schaffen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei verletzt – zugunsten des „Rechts auf freie Durchfahrt“ für überregionalen Transitverkehr, kritisiert Schürfeld. Mobile Pflegedienste kommen nicht durch, angestellte Lehrer wandern ab, Geschäfte und Betriebe machen Verluste, Lieferketten sind gestört, beklagt Schürfeld. „Die Stadt stirbt, eine ganze Region stirbt.“
Brücke sollte eigentlich 2022 gesprengt werden
Der Neubau soll schnellstmöglich vorangetrieben werden, sagen Bund, Land NRW und die Autobahn GmbH. Mit einer von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) eigentlich für 2022 versprochenen Sprengung wird es aber nichts. „Auch wenn das jetzt leider mit der Sprengung nicht so schnell geklappt hat wie wir uns das vorgestellt haben, hat das keinerlei Einfluss auf die Planung und den Neubau“, versicherte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, Oliver Luksic, kürzlich.
Denn Baurechtsverfahren und Vergabeverfahren liefen davon unabhängig und parallel. Die Autobahn GmbH betont, man komme voran. Umweltbelange seien abgearbeitet, man habe „mit allen Grundstücksbetroffenen Einvernehmen“ erzielt, sagt Westfalen-Niederlassungsleiterin Elfriede Sauerwein-Braksiek. An der Baustelle auf fast alpinem Gelände laufen Fällarbeiten. Hänge werden abgesichert. Versorgungsleitungen an angrenzenden Straßen, ebenso wie Wohnhäuser und ein Betrieb in Brückennähe sind zu schützen. Ein riesiges Fallbett für das Bauwerk soll angelegt werden.
Aber Ungeduld und Verärgerung wachsen. „Die Nerven liegen blank“, berichtet Schürfeld. Einen „Endzeitpunkt“ für den Neubau könne man noch nicht nennen, meint Luksic. Wann der Verkehr wieder rolle, wisse man erst, „wenn wir das finale Angebot des ausführenden Unternehmens“ haben. Kurz nach der Sperrung war als Ziel eine fünfjährige Bauzeit genannt worden. Der Lüdenscheider Bürgermeister Sebastian Wagemeyer (SPD) spricht nun vage vom Frühjahr 2023 als Termin für die Sprengung.
Volkswirtschaftliche Schaden ist enorm
Der volkswirtschaftliche Schaden und die Belastungen für die Bürger seien gravierend. Die Zahl der durchfahrenden Lkw müsse weiter reduziert werden, verlangt der Bürgerbeauftragte. Bund und Land sollten mehr helfen, die Region brauche einen Schadensausgleich. Am kommenden Montag will Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) auch mit Betroffenen in Lüdenscheid sprechen.
„Es ist ein Albtraum“, erzählt ein Anwohner, dessen Haus von allen Umleitungsstraßen umzingelt ist. „Wir werden Tag und Nacht gestört, vor allem von den durchfahrenden Lastwagen.“ Auch an engen Anliegerstraßen, auf denen Durchgangsverkehr verboten sei, verstopften Lkw die Wege. Das Unfallrisiko sei enorm. Es gebe kaum Fortschritte, bemängelt der 65-Jährige. Von der Politik ist er enttäuscht. „Es ist frustrierend, dass im Verkehrsministerium niemand den Mut hat, konsequent durchzuziehen, koste es was es wolle.“
Am Anfang sei nichts passiert. „Weil die Haselmaus ihren Winterschlaf hatte. Aber dass die Menschen nachts nicht schlafen können, scheint niemanden zu stören. Alle werden nur vertröstet.“ Es brauche mehr Tempo bei dem Projekt, ein sofortiges Nachtfahrverbot und ein Stopp des Transitverkehrs, verlangt der Anwohner. Umleitungen über andere Autobahnen müssten besser ausgeschildert werden.
Regionale Wirtschaft leidet extrem
Bei der südwestfälischen Industrie- und Handelskammer heißt es, die Lage für die regionale Wirtschaft sei katastrophal. Auf fünf Jahre gerechnet, sei einer Studie zufolge mit „negativen ökonomischen Effekten“ von 1,8 Milliarden Euro zu rechnen, schildert ein SIHK-Sprecher. Arbeitskräfte kehrten der Region den Rücken: „Wer eine andere Möglichkeit findet, kündigt.“
Auch Ausbildungsbetriebe seien in Not. Es finde sich kaum Nachwuchs, der bereit sei, stets im Dauerstau zu stehen. Die Bürgerinitiative protestiert regelmäßig in der 72 000-Einwohner-Stadt – und blickt pessimistisch in die Zukunft. Auch der 65-jährige Anwohner ist inzwischen desillusioniert: „Ich habe keine Hoffnung. Und dass wir in fünf Jahren wieder eine neue Brücke haben werden, glaubt hier in Lüdenscheid sowieso keiner mehr.“
dpa